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Info-Mail Schach Nr. 349


Hallo Schachfreunde,
Rustam Kasimdschanow (Usbekistan) ist neuer Schachweltmeister -
Bobby Fischer (USA), ein früherer Schachweltmeister, ist verhaftet worden.
Viel Spaß beim Lesen von zwei sehr ausführlichen Berichten zu diesen
überraschenden Schlagzeilen wünscht
Herbert Lang

Rustam Kasimdschanow und das unbezahlbare Glück, Weltmeister zu sein
(von Dirk Poldauf - DIE WELT - 15.07.2004)
Tripolis - Den Ausflug zur Weltmeisterschaft des internationalen
Schachverbandes FIDE beendete Rustam Kasimdschanow so, wie er ihn begonnen
hatte: Er mischte sich unerkannt unters Volk, suchte sich ein hübsches
Restaurant und probierte einheimische Spezialitäten. Während sich seine
Konkurrenten drei Turnierwochen lang im direkt am Hafen gelegenen
Fünf-Sterne-Hotel Al Mahary verschanzten und es trotz der absurd
überteuerten Restaurantpreise bis zum Abflug nie verließen, hatte
Kasimdschanow ("Vieles hier in Tripolis erinnert mich an meine Heimatstadt
Taschkent") das Sicherheitsrisiko in Libyens Hauptstadt von Anfang an
ignoriert.
Diese demonstrative Unbekümmertheit verhalf dem 24 Jahre alten Usbeken
scheinbar auch am Schachbrett dazu, dass er sich seit Dienstag überraschend
Weltmeister nennen darf. Nur von der Reserveliste ins 128-köpfige
Teilnehmerfeld gerutscht, weil Revolutionsführer Muammar Al Gaddafi zwar 1,5
Millionen Dollar Preisgeld für die Weltmeisterschaft, nicht aber Visa für
den Tross der israelischen Teilnehmer rausrückte, überraschte Kasimdschanow
mit seiner aggressiven Spielweise alle Favoriten. In den jeweils bei
Gleichstand anberaumten Schnellpartien mit wachsender Zeitnot bezwang er
nacheinander die an Platz eins bis vier gesetzten Favoriten Wassili
Iwantschuk (Ukraine), Alexander Grischuk (Russland), Wesselin Topalow
(Bulgarien) und im Finale nach einem 3:3-Zwischenstand den Engländer Michael
Adams.
"Ich kann gar keinen Gedanken fassen. Mein Kopf ist völlig leer", erklärte
Kasimdschanow nach seinem Sensationstriumph, "es ist alles wie ein Traum."
Nach der Siegerehrung packte er den 70 000-Dollar-Scheck und hektisch die
Koffer und flog dann über Wien und Düsseldorf heim nach Solingen. Dort wohnt
der neue Weltmeister seit einem Jahr mit Frau und Kind.
Wie viele Schachprofis aus dem Ostblock hatte Kasimdschanow sein Leben
bislang durch Honorare für Mannschaftskämpfe mehr recht als schlecht
finanzieren können, nur die Top Ten der Welt können vom Schach
vergleichsweise sorgenfrei leben. Seinen langjährigen Bundesligaverein SG
Solingen hatte die bisherige Nummer 54 der internationalen Rangliste erst im
Mai in Richtung Zweitligist Godesberger SK verlassen, weil ausstehendes
Honorar nicht schnurstracks überwiesen worden war. "Ich hatte das Gefühl,
dass ich in Solingen nicht mehr geschätzt bin", sagte Kasimdschanow der
WELT, "Ich finde, es ist kein Zufall, dass ich sofort nach dem
Vereinswechsel so gut spiele."
Doch nun wird sich auch finanziell vieles ändern. "Ich fühle mich wie eine
Million Dollar", sagte Kasimdschanow, der nun für die Wiedervereinigung des
Weltschachs sehr wichtig wird.
Die von Garri Kasparow 1993 ausgelöste Spaltung in mehrere Weltverbände
hatte das Schach nicht nur in die Nähe des halbseidenen Profiboxens gerückt,
der einhergehende Imageverlust stellte letztendlich wohl auch die
Finanzierbarkeit infrage. Deshalb war vor zwei Jahren in Prag ein
Vereinigungsprozess beschlossen worden. Der sieht vor, dass der neue
FIDE-Weltmeister Kasimdschanow nun gegen Altmeister Kasparow (41) antritt,
angeblich hat sich Dubai bereits als Veranstaltungsort angeboten. Der Sieger
dieser Partie spielt dann gegen den Champion des anderen Weltverbandes.
Dieser wird im Duell zwischen dem Russen Wladimir Kramnik, der im Jahr 2000
Kasparow entthront hatte, und dem Herausforderer Peter Leko (Ungarn) ab 25.
September in Brissago/Schweiz ermittelt. Und erst dann, Experten rechnen
nicht vor 2005 damit, gibt es wieder den Weltmeister.
Vielleicht tritt Kasimdschanow ("Ich kann nicht mehr tun, als gut Schach zu
spielen") bis dahin ja mit neuem Pass an, der deutsche Schachverband hat
sein Interesse bekundet. Bundestrainer Uwe Bönsch äußerte in Tripolis sein
Bedauern, dass der Usbeke Kasimdschanow sich nicht schon vor der WM in die
deutsche Rangliste eingetragen hatte, "denn dann hätten wir uns diesen
Erfolg auf die Fahnen schreiben können."

Ein nationaler Held der USA wird festgenommen
(Goedart Palm -18.07.2004 - bei
www.heise.de)

Ex-Weltmeister Bobby Fischer wird in Japan verhaftet
Auf dem Weg zu den Philippinen wurde Ex-Weltmeister Robert "Bobby" J.
Fischer von den Einwanderungsbehörden in Japan auf Grund eines alten
US-Haftbefehls festgenommen. Das ist das vorläufige Ende einer
Ausnahmeerzählung in der Welt des Schachs, die an Ausnahmeerzählungen
nicht gerade arm ist.
Fischer war nicht nur eine  Schachlegende, ein genialer
Ausnahmespieler, der mit 14 Jahren US-Meister, mit 15 Jahren
Großmeister und schließlich 1972 Weltmeister wurde. Fischer war die
einzige Langstreckenrakete, die während der Zeit des kalten Krieges
tief im Herzen des Klassenfeinds zündete und im hochpolitischem Feld
des Sports für Verheerungen sorgte. Fischer persönliche Paranoia, die
nicht allein darin bestand, seine göttliche Mission darin zu sehen,
russische Großmeister zu demütigen, fügte sich gut in den
ambitionierten Systemvergleich. Denn die sowjetischen Großmeister waren
kein simplen Sportler ihres Landes, sondern Repräsentanten der
sozialistischen Überlegenheit im Reich des Geistes. Was war besser als
Schach, den Systemvergleich messbar zu gestalten?

Die Ballade von Bobby Fischer
1972 kam es zum Showdon der Weltmeisterschaft in Reykjavik, die es
spannungsmäßig lässig mit "High Noon" aufnehmen konnte. Fischer
versetzte trotz oder wegen seiner Eskapaden jenseits des Brettes -
immer wieder drohte er mit Abbrüchen und vergab eine Partie kampflos -
Boris Spassky eine grauenhafte Niederlage. Doch die galt vor allem der
bis dato unangefochtenen sowjetischen Schachhegemonie. Während der
schmachvollen Niederlage suchten die Sowjets nach Erklärungen, die
selbstverständlich nichts mit der spielerischen Extraklasse des
US-Champions zu tun hatten. Selbst der KGB wurde eingeschaltet, um
Manipulationsvorwürfe gegen Fischer zu konstruieren, die allesamt
ergebnislos blieben. Bewundernd sprach der SPIEGEL weiland davon, dass
ein Amerikaner die Vorherrschaft der Russen erstmals sei 71 Jahren zu
durchbrechen drohte.
Schon zuvor hatte Fischer die russischen "Systemvertreter" reihenweise
gedemütigt. Die Schachheroen Petrosjan und Taimanow wurden fast wie
Anfänger eines Spiels vorgeführt, das Goethe schon als "Probierstein
des Gehirns" bezeichnet hatte. Fischer wurde in den patriotischen USA
wie ein Held gefeiert. Die Amerikaner, nicht gerade eine schachfreudige
Nation, entdeckten das Spiel, liefen in Schachvereine und verfolgten
staunend auf dem Monitor die "tiefen Züge" des ehemals armen Jungen aus
Brooklyn. Der dekadente denkfaule Westen hatte die sowjetischen
Analysiermaschinen besiegt, nicht mal gerade so, sondern vernichtend
und teilweise mit ausgesuchter psychologischer Bosheit, die etwa
Fischer dem russischen Großmeister Taimanow dessen Leib- und
Magenvarianten servieren ließ, um ihm zu zeigen, wer der wahre Meister
ist.

Junge Gentlemen, die angestrengt arbeiten
Danach war von Fischer nicht mehr viel zu sehen, sein Lebensziel hatte
er erreicht. Es kursierten in den folgenden Jahren nicht viel mehr als
dunkle Geschichten, dass der Meister, von mütterlicher Seite jüdischer
Abstammung, antisemitische Hetzschriften verteilte und die Rückkehr in
die viereckige Arena von horrenden Teilnahmeprämien abhängig machte.
Angeblich war er nur gegen Zahlung von 1000 Dollar bereit, an ihn
gerichtete Briefe zu öffnen. Es ist das Privileg von Schachmeistern,
wahnsinnig zu sein und die Schachgeschichte war bis zu Fischer eine
Geschichte der verrückten Genies, von autistischen Geistesriesen, die
während einer Partie etwa in die Hose machten, weil sie nur in der
virtuellen Welt aus 64 Feldern lebten. In der Ära nach Fischer wurde es
ruhiger in der Szene und allein Kasparow war hin und wieder für jene
Kapriolen gut, die sich nicht auf das Schachbrett beschieden. Im
Übrigen sind Schachmeister heute regelmäßig junge Gentlemen, die
angestrengt arbeiten und von einer breiteren Öffentlichkeit nicht allzu
sehr beachtet werden.
Fischer erschien September 1992 wieder aus der selbst gewählten
Versenkung. Da ihm kampflos der Titel aberkannt worden war, sah er
keinen Grund, sich nicht länger für den Weltmeister halten zu dürfen -
zeitweise gab es drei Schachweltmeister simultan. Er gewährte Spassky
in Sveti Stefan, Jugoslawien, einen Rückkampf, der nach Fischers Lesart
endgültig über die Krone des königlichen Spiels entscheiden sollte. Er
kam, sah und  siegte - und erhielt für seinen Sieg mehrere Millionen
US-Dollar.

Fischer hatte sich schon zuvor auch als Geschäftsprofi erwiesen, wenn
es darum ging, das Spiel zu einer kommerziell lukrativeren
Angelegenheit zu machen, als es jene Altmeister vermochten, die
vornehmlich der Ehre halber spielten und oftmals verarmt in
Vergessenheit gerieten. Fischer spielte gegen das ausdrückliche Verbot
der US-Regierung. Nach Ansicht der US-Behörden verletzte er nämlich mit
seiner Teilnahme das Handelsembargo gegen Serbien und Montenegro.
Fischer soll auf den Brief des US-Handelsministerium gespuckt haben,
der das Verbot enthielt, dort nicht zu spielen. Zwar mag es sein, dass
das eher harmlose Revival-Match die Zielsetzungen dieses Embargos
unterlief, borniert jedoch war es allemal, den einstigen Nationalhelden
mit bürokratischer Elle zu vermessen.
Fischer hatte sich ohnehin noch nie in seinem Leben allzu sehr um
Regeln bekümmert, die jenseits der Felder galten, die die Welt
bedeuten. Als er noch ein prominenter nationaler Export-Artikel in
Zeiten des Kalten Kriegs war, nahm ihm das außer seinen Brettgegnern
niemand übel. So hatte weiland Henry Kissinger noch im höchsten Auftrag
auf den unberechenbaren Fischer eingewirkt, "zum Besten der Nation" nur
ja nicht unverrichteter Dinge aus Reykjavik abzuziehen.

Einen Voltaire verhaftet man nicht
Das Match, das ihm nun zum Verhängnis geworden ist, war keine
gigantische Schach-Veranstaltung. Spassky war zu dieser Zeit längst
kein ambitionierter Spieler mehr und Fischer war durch seine
zwanzigjährige Weigerung, ernsthafte Matches zu spielen, auch kaum
besser geworden. Es war eine Nostalgieveranstaltung, die von ferne an
bessere Zeiten erinnerte. Dass nun Fischer für dieses "Altherren-Duell"
festgenommen wurde, ist schlechter Stil. De Gaulles berühmter Spruch
über den Philosophen Sartre "Einen Voltaire verhaftet man nicht" ist im
Land der Freiheit offenbar eher nicht bekannt.
Seinerzeit hatte man noch Verständnis für diese "turbulente Mischung
aus Arroganz, Unreife, Paranoia und Überempfindlichkeit" (Newsweek).
Selbst eine hämische Schallplatte, die "Ballade von Bobby Fischer"
erschien 1972, nachdem er Spassky "vernichtet" hatte und der dafür nach
Sibirien verbannt wurde - zumindest auf der Platte. Nun droht Fischer,
der selbst die Verbannung gewählt hatte und seit Jahren auf der Flucht
ist, die Auslieferung nach Amerika. Arthur Koestler nannte die
Weltmeisterschaft 1972 einen bizarren Stierkampf. Gegenwärtig erleben
wir dagegen eine bizarre Eselei. Warum man im Fall Fischers die Muskeln
des kleinlichen Rechtsstaats spielen lässt, ist unerfindlich.

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