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Info-Mail Schach Nr. 632


Schach dem Computer - Duell Weltmeister Kramnik gegen "Fritz 10"
(von Rainer Grünberg - Hamburger Abendblatt - 23.11.2006)

Wer gewinnt in Bonn? Am Wochenende startet die erste von sechs Partien
zwischen dem Russen und der neuen Schachcomputer-Generation. Das Hamburger
Unternehmen Chessbase hat die Software für die Maschine entwickelt.

Er war aufgeregt, hatte geschwitzt und in seiner Hilflosigkeit die Technik
dämonisiert. An diesem 12. Mai 1997, glaubten nicht nur Informatiker, hatte
die Maschine den Menschen zum Untertan degradiert. Das 17 Millionen teure
IBM-Monster "Deep Blue", damals schnellstes Elektronengehirn der Welt, hatte
Garri Kasparow, den bis 2005 weltbesten Schachspieler, in New York mit
2:1-Siegen in sechs Partien auf den 64 Feldern gedemütigt.

Der Rechner hätte menschliche Züge gezeigt, wetterte der erhitzte Russe, Big
Blues Silizium-Spross sei in unkalkulierbaren Situationen von
Großmeister-Gedanken inspiriert und manipuliert worden. Die Anschuldigungen
konnten auch nach Einsicht in die Rechenprotokolle nicht geklärt werden. Ein
Revanchematch wurde Kasparow verwehrt.

Neuneinhalb Jahre später kommt es zu einer möglicherweise ultimativen Runde
im Wettstreit der Elektronen und Neuronen, der Schaltstellen und Synapsen.
Schach als Probierstein von Gehirn und Gerät, diesmal anlässlich des
Informatikjahrs in der Bundeskunsthalle in Bonn. Weltmeister Wladimir
Kramnik (31), der in Elista gerade seinen bulgarischen Widerpart Weselin
Topalow trotz häufigen Toilettenbesuchs in einem dramatischen Wettkampf
mattsetzte, misst sich vom 25. November bis 5. Dezember in sechs Spielen mit
dem Computerchampion "Fritz 10". Gewinnt der Russe, kassiert er eine Million
Euro, andernfalls muss er sich mit der Antrittsprämie von 500 000 Euro
begnügen.

Das Computer-Programm entwickelte und vertreibt das Hamburger Softwarehaus
Chessbase für 49,99 Euro, die in Bonn zum Zug kommende Multiprozessorversion
für 119,99 Euro. Matthias Wüllenweber, einer der Väter von "Fritz", hat aus
den "Fritz"-Algorithmen eine Komponierengine abgeleitet, die Herzstück eines
Instrumentenlernprogramms namens "Ludwig" ist.

Während "Deep Blue" einst 1,5 Tonnen wog, auf 200 Prozessoren lief und im
Schnitt 200 Millionen Schachstellungen in der Sekunde erzeugen und
beurteilen konnte und ständig mit Ventilatoren belüftet werden musste, ist
der Enkel des schnellen Brüters eine DVD-ROM. "Deep Fritz" wird gegen
Kramnik von vier Prozessoren angetrieben (zwei Intel-Core-2-Duo). Der
Rechner hat vier Gigabyte Hauptspeicher. Das Programm ist 25-mal langsamer
als "Deep Blue", eine intelligentere Software aber trimmt es zu einem noch
stärkeren Kontrahenten. Mehr als 1,5 Gigabyte große "Hash Tables", eine Art
elektronisches Gedächtnis, machen den Fortschritt möglich. Sie speichern
Stellungen und deren schachliche Einschätzungen und verhindern, dass der
Computer dieselben Varianten immer wieder prüft - was "Deep Blue"
unnützerweise tat. Bereits mit dem Vorgängermodell "Fritz 7", mit 65 Prozent
weniger Rechenkraft als "Fritz 10" verdrahtet, hatte Kramnik vor vier Jahren
in Bahrain Schwierigkeiten. Der zähe Kampf endete 4:4.

Geschwindigkeit allerdings spielt beim Computerschach keine zentrale Rolle.
Zwar herrscht auf dem Brett vollständige Information, die Spielmöglichkeiten
jedoch ufern schnell ins Unendliche. Am Anfang stehen jeder Partei 20 Züge,
16 mit acht Bauern und vier mit beiden Springern, zur Auswahl. Daraus
entstehen 400 Abzweigungen. Für eine Folge von 40 Zügen, der Länge einer
umkämpften Partie, gibt es mehr Varianten als Atome im Universum. Diese
Vorausschau kann kein Rechner leisten. Die Super-Maschinen müssen ihre
Aber-Milliarden Operationen, von denen je nach Typ bis zu 99,999 999 Prozent
schachlicher Nonsens sind, irgendwann zwischen neun und 17 Halbzügen ("Fritz
10") - mit vereinzelten Vertiefungen bei zwangsläufigen Folgen
(Schlagabtausch) - abbrechen und zu einem Ergebnis kommen. Und hier fangen
die Probleme der Programmierer an.

Die etwa 100 Kriterien für Stellungsbeurteilungen - Material, Raum, Zeit,
Sicherheit des Königs, offene Linien und Diagonalen - sind nicht exakt
algorithmisch zu beschreiben. Während der Mensch die strategische Bedeutung
der Steine und Strukturen dank ihrer Erfahrung, ihres Wissens oder ihrer
Intuition einschätzt, mangelt es Computern an qualifizierter Weitsicht. "Den
Maschinen fehlt die Flexibilität im ,Denken', sie bleiben ausrechenbar",
weiß Kramnik nach Tausenden Trainingspartien mit "meinem Freund Fritz", "ich
kann zwar nicht alles kalkulieren, aber ich fühle, das ist der richtige
Zug".

Etwa 50 000 "Schachwörter" helfen ihm. Der Umfang liegt in der Größe des
Gesamtwortschatzes einer Sprache (Grundwörter, Stämme, Flexionsformen). Ein
Schachmuster kann ein einfacher Begriff wie "Diagonale" sein oder ein
komplexes Konstrukt wie "sichere Königsstellung". Daraus resultieren
Bauernformationen und Strategien. Die wiederum sind den auf
Ja-Nein-Entscheidungen reduzierten schachspielenden Schaltkreisen - Strom
ein, Strom aus - in ihrer Vielfalt nicht präzise zu vermitteln. Schon
minimale Bewertungsunterschiede können mittelfristig gravierende
Auswirkungen zeitigen, die in einer Partie kaum zu korrigieren sind. Kramnik
wird daher sein Spiel nicht auf kurzzügige Kombinationen anlegen, auf diesem
Gebiet ist der Rechner unschlagbar. Er wird blockierte Positionen mit wenig
Bewegungsspielraum für die Figuren suchen, in denen charakteristische
Merkmale jenseits des Rechnerhorizonts entscheiden. In diesen starren
Stellungen schaltet das Gehirn schneller als der Chip.

"Deep Blue" kümmert das alles nicht mehr. Er/sie/es betreibt jetzt
Datamining (Datenbergbau) und erforscht unentdeckte Zusammenhänge. Dabei
fand die Maschine heraus, dass in US-Supermärkten der Verkauf von Windeln
und Bier korreliert. Fortan wurden beide Produkte weit auseinander gestellt.
Ähnlich grundlegende Erkenntnisse, fürchtet Kramnik, werden "Fritz" und er
der Nachwelt kaum hinterlassen. Dennoch hat er Großes im Sinn: "Ich möchte
zeigen, dass der Mensch noch zu etwas taugt." In Bonn, ahnt er, "habe ich
dazu vielleicht die letzte Chance. Ich fürchte, der Mensch wird das Denken
in absehbarer Zeit doch den Maschinen überlassen müssen."

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