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Info-Mail Schach Nr. 637


Schach-Meko: Kramnik gegen Deep Fritz in Bonn 2006 (2)"Grobe Fehler macht
nur der Mensch"
Weltmeister Kramnik lässt sich von Deep Fritz wie ein Anfänger in einem Zug
matt setzen
(von FM Hartmut Metz)

Im sicheren Gefühl des nahen Sieges ist Wladimir Kramnik vom Schachbrett
aufgestanden, drehte sich nochmals um und fasste sich mit der Hand an den
Kopf. Mit starrem Blick erkannte der Weltmeister: In einem Zug würde ihn
Deep Fritz matt setzen. Das Programm brauchte keine Millisekunde, um die
entscheidende Fortsetzung auszuspucken. Als Computer-Bediener Mathias Feist
die weiße Dame dem schwarzen König direkt vor die Nase gestellt hatte,
gratulierte Kramnik und lief kopfschüttelnd von der Bühne.
Nach zwei Partien in der Bonner Kunst- und Ausstellungshalle führt Deep
Fritz mit 1,5:0,5. Um seine Antrittsgage von 500.000 Dollar in dem Match
"Mensch gegen Maschine" auf eine Million zu verdoppeln, muss Kramnik die
Software aus Hamburg in sechs Partien mit mindestens 3,5 Punkten schlagen.
Dass das noch immer möglich ist, unterstrich der Weltmeister wenige Minuten
nach der Tragödie in einem Akt. Relativ gefasst analysierte er das Drama.
"So ein Patzer ist mir noch nie passiert!", sagte der 31-Jährige mit Blick
auf den 35. Zug. Großmeister Helmut Pfleger, der seit Jahrzehnten für das
Fernsehen von Weltmeisterschaften und Topturnieren berichtet, konnte sich an
keinen ähnlichen Bock auf diesem Niveau erinnern. "So etwas habe ich noch
nie gesehen, nein, so was nicht", wiederholte sich der Münchner und fand den
stümperhaften Fehler "unglaublich und erschütternd".
 Viele der Millionen Fans im Internet werden zunächst an einen
Übertragungsfehler geglaubt haben. Der Verteidiger der menschlichen Ehre in
Bonn hatte schließlich dem Programm in den ersten 30 Zügen "eine Lehrstunde
erteilt", wie der mehr als hundertfache Nationalspieler Pfleger und Frederic
Friedel von Fritz-Vertreiber Chessbase unisono meinten. Selbst die
Mitglieder aus dem Team der Hamburger Software-Firma bekundeten ihr Mitleid.
"Kramnik hatte bis dahin enorm stark gespielt und ist sehr gut auf uns
vorbereitet", lobte Deep-Fritz-Bediener Feist. "Nach dieser fantastischen
Leistung hätte er nur noch die Früchte ernten müssen", pflichtete Pfleger
bei und hatte nur eine Erklärung für den Aussetzer, "Kramnik war sich zu
sicher, dass er gewinnt."
 Mit den schwarzen Steinen, kündigten Experten an, überrenne das
Rechenmonster, das bis zu zehn Millionen Stellungen pro Sekunde berechnet,
seinen Gegner. Doch der Vorteil des ersten Zugs verpuffte. Durch das
Publikum ging zwar ein Raunen, als Deep Fritz einen vermeintlich aggressiven
Damenzug in Richtung des schwarzen Königs machte, doch Kramnik brachte die
Partie rasch unter Kontrolle. Schon im ersten Duell hatte der Mensch das
Geschehen mit einer kontrollierten Offensive bestimmt. Geschickt sammelte
der Russe kleine Vorteile, nur den möglichen K.o.-Schlag verpasste er auch
schon da in einem Moment.
 Der Weltmeister berichtete, er habe in der Schlussphase die Varianten nach
jedem Zug aufs Neue geprüft. "Ich konnte das Remis forcieren, sah aber
keinen Grund, ein Unentschieden anzustreben", analysierte der Russe. Deep
Fritz sah seinen Gegner mit bis zu 0,7 Bauerneinheiten im Plus. Das ist ein
deutlicher Vorteil, den die Profis oft gegen ihre menschlichen Kontrahenten
verwerten. "Ich stand noch nicht ganz auf Gewinn, hatte aber gute Chancen",
erläuterte Kramnik, warum er das zweite Remis in dem Wettkampf verschmähte.
Doch ab dem 33. Zug geriet er vom Erfolgspfad ab. Danach hätte die Partie
mit einem Dauerschach von Weiß enden sollen.
 Dass er vor dem heutigen dritten Duell (15 Uhr) mit 0,5:1,5 zurückliegt,
anstatt womöglich sogar mit 2:0 zu führen, entmutigt Kramnik kaum. "Ich
finde nicht, dass ich schlechter bin", äußerte der Schach-Weltmeister
trotzig, "ich drückte in der ersten Partie und überspielte Fritz. Deshalb
gehe ich sehr zuversichtlich in die nächsten vier Begegnungen." Helmut
Pfleger ist banger, obwohl Kramnik Deep Fritz selbst auf "dessen ureigenstem
Terrain, der Taktik, vorführte". Der Mediziner mit Fachgebiet Psychosomatik
gibt nach dem Patzer gegen die Maschine zu bedenken: "Grobe Fehler macht nur
der Mensch!"

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