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Info-Mail Schach Nr. 640


Das Duell Mensch gegen Maschine - Kramnik gegen Deep Fritz -
Endstand 2-4
(Spiegel Online - 06.12.2006)

Wettkampf verloren - was nun?
Gestern ging der Wettkampf zwischen Mensch und Maschine in Bonn zu Ende. Das
Ergebnis lautet 4:2 - nicht für uns, sondern für die Maschinen. Hat der
Mensch nun die intellektuelle Oberhoheit verloren? Ist Schach tot?
Fritz-Team-Mitglied Andre Schulz zieht ein Fazit des Turniers.

Schon einmal hat ein Weltmeister einen Kampf gegen einen Schachautomaten
verloren. Nur: Als Kasparow gegen Deep Blue mit einer minderwertigen
Variante die letzte Partie und damit den Wettkampf verlor, konnte man das
als Ergebnis einer gewissen Paranoia deuten. Kramniks Niederlage ist anderer
Natur. Der lange Mann aus Tuapse ist so was von cool., dass er den zumeist
nervösen Schachspielern manchmal schon etwas fremd vorkommt.
Auch diesmal sah Kramnik gar nicht schlecht aus. Seine Matchstrategie sah
vor, mit Hilfe geeigneter Eröffnungsvarianten möglichst früh die Damen zu
tauschen und in klaren Strukturen mit wenigen Steinen dank seines
überlegenen Schachverständnisses die Partien vielleicht zu gewinnen,
wenigstens aber nicht zu verlieren. Ein einziges Mal in den ersten fünf
Partien tauschte er nicht die Damen, prompt ließ er sich Matt setzten. In
der zweiten Partie zeigte sich zudem ganz klar der "human factor": Kramnik
hatte einen Gewinnplan gesehen und war von diesem so geblendet, dass er für
die Gefahr, die seinem eigenen König drohte, für einen Moment blind wurde.
Aber auch in Partie Eins stand Kramnik günstig. Nachher glaubten
Kommentatoren, einen Gewinn nachweisen zu können - den sie mit Computerhilfe
gefunden hatten.
In den folgenden zwei Partien übernahm Deep Fritz die Initiative. Spielte er
plötzlich besser? War er vorher nicht in Form, vielleicht noch kalt? Nein.
Durch Zufall, durch den Lauf der Partien in bestimmte Eröffnungsvarianten,
kamen hier Positionen auf das Brett, in denen der Rechner seine Mittel
besser zum Einsatz bringen konnte: Es gab mehr zu rechnen.
In der vierten Partie opferte die Maschine sogar einen Bauern - Bauernopfer
sind eigentlich Maßnahmen, die sonst nur dem Menschen vorbehalten sind. Das
sah so aus, als ob das Ding nun plötzlich auch noch menschlich spielen
würde. Das ist aber reine Interpretation. In Wirklichkeit hatte der Rechner
dieses Opfer als beste Fortsetzung errechnet. Für ihn war es gar kein Opfer,
sondern schlicht der objektiv beste Zug.

War Kramnik wirklich so unterlegen?
In den ersten fünf Partien hat Kramnik Stellungen herbeiführen können, in
denen seine strategischen Fähigkeiten die taktische Rechengewalt des
Computers kompensierten, manchmal sogar mehr als das. Der Kampf war
ausgeglichen. Nur wegen des blöden einzügigen Matts in der zweiten Partie
lag der Weltmeister hinten.
Damit stand Wladimir Kramnik vor der letzten Partie vor folgender Frage:
Soll er so wie bisher spielen, mit wenig Risiko in übersichtlichen Stellung,
aber auch ohne reale Gewinnchance? Oder sollte er das Risiko auf sich nehmen
und in einer komplexeren Variante hoffen, dass er vielleicht einmal zum
"lucky punch" kommen würde, weil das Gerät zum Beispiel einen langfristigen
Angriff wegen seines zwar großen, aber dennoch beschränkten Horizonts nicht
richtig bewerten würde?
Der Weltmeister entschied sich für den zweiten Weg: Volles Risiko - und im
schlimmsten Fall mit wehenden Fahnen unterzugehen. So kam es dann auch.
Die Partie verlief für Kramnik wohl nicht ganz nach Wunsch, denn Deep
Fritz - genauer seine Bediener in der Vorbereitung - wählte von den vier
Hauptvarianten der Sizilianischen Najdorf-Verteidigung diejenige mit den
wenigsten forcierten Abspielen. Vielleicht hatte Kramnik auf den englischen
Angriff gehofft, um einen lang rochierten Deep Fritz im Königsangriff
umzuhauen?

Das ist neu: Strategie beim Rechner
In der gespielten Sosin-Variante rochierte der Schachalgorithmus kurz. Dann
spielte er die Position so, wie die Meister es eigentlich nicht machen. Als
erstes brachte er einen Turm - die Artillerie im Schach - vor seine Bauern
(die Infanterie) in Stellung. Jeder Stratege weiß, dass die Artillerie nicht
vor der Infanterie stehen soll, und das gilt auch im Schach - normalerweise.
Die kommentierenden Großmeister bei der SPIEGL-ONLINE-Liveübertragung Klaus
Bischoff, Dr. Helmut Pfleger und Artur Jussupow zeigten sich auch mit der
Position von Kramnik sehr zufrieden. Als Kramnik mit dem Springerrückzug
Sf6-g8 eine Umgruppierung seiner Position einleitete und Fritz sofort mit
dem Rückzug Sc3-b1 antwortete, deutete Artur Jussupov das noch als eine Form
von Computerhumor.
Doch auch der Rechner baute seine Position um, piesackte Kramniks Formation
in der Folge mit einigen Nadelstichen und zeigte mit seinem Vorstoß e4-e5,
dass Kramniks vermeintliche Festung diesmal nur ein Kartenhäuschen war. Mit
einem Mal waren alle Bahnen zu Kramniks König geöffnet. Die Artillerie
feuerte aus allen Rohren. Kramnik befand sich in einer Schrottpresse, dessen
zwei Backen nun unaufhaltbar aufeinander zuliefen. Diesmal konnte er sie
nicht aufhalten.

Bewertung
4:2 für die Maschine - das ist nicht das Ende, aber vielleicht der Anfang
vom Ende der Mensch-Maschinen-Wettkämpfe. Kramnik hat großartig gespielt und
manchmal war er dem Sieg nahe. Hätte er maschinelle Präzision gezeigt, hätte
er wohl eine oder zwei Partien gewonnen, so hat er zweimal verloren. Vor der
letzten Partie hat er seine bisherige Strategie aufgegeben und mit offenem
Visier gekämpft. Jeder konnte sehen, dass die Luft hier für den Menschen
extrem dünn ist. Abstrus aussehende Maschinenmanöver werden plötzlich zu
großem Schach. Artur Jussupow, selbst der stets eloquente Helmut Pfleger,
waren minutenlang sprachlos.
Die Programme sind besser geworden. Aber gelöst ist Schach noch lange nicht.
Für die Programmierer stellt sich nun folgende reizvolle Aufgabe: Wie kann
man die Fähigkeiten der Schachprogramme noch besser für den Menschen nutzbar
machen? Können die Programme den Menschen beibringen, besser Schach zu
spielen? Können Sie zum echten Schachlehrer werden? Teilweise sind sie dies
schon, wie eine neue Generation großmeisterlicher Computerkids beweist.
Und was kam für das Schach bei diesem Wettkampf heraus? Niemals zuvor stand
Schach so sehr im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Das Forum der
Bundeskunsthalle - eine tolle Bühne - war jedes Mal brechend voll und
mehrere Millionen Menschen verfolgten die Schachschlacht zwischen
künstlicher und natürlicher Intelligenz über das Internet. Selbst
Schachlaien hatten einen Heidenspaß und verstanden mit Hilfe der
anschaulichen Expertenkommentare, was da vor sich ging. Schach ist cool -
mit Computer noch cooler.

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