Hochgefühl auf Hektor 7 (Quelle: Focus Nr. 41/2008) (Von FOCUS-Redakteur Axel Wolfsgruber) Er weiß nicht, dass er heute ein Hemd mit wirrem Muster trägt. Nur, dass es angenehm weich ist. Er weiß nicht, dass die Strauchrose auf seinem Balkon orangefarben ist. Nur, dass sie so herrlich duftet. Wenn er in seinem Arbeitszimmer am Computer Schach übt, schaltet er den Bildschirm aus, um Strom zu sparen, während der Lautsprecher die Zugfolge so rasant herauspresst, als würde er ein Tonband im Vorspulmodus abhören. Dieter Bischoff ist einer der besten Schachspieler Deutschlands. Nur sieht er die 64 Felder und 16 Figuren nicht. Er fühlt sie. Auf den schwarzen Figuren stecken Nägel, die weißen Felder liegen etwas tiefer als die schwarzen. Bischoffs schmale Hände gleiten über Bauern, Springer und Könige wie jene geübter Pianisten über die Tasten. Der Rest ist Vorstellungskraft. Der 57-Jährige spielt im Kopf. Die vier Millionen fremden Schlachten, die er auf der Festplatte seines Computers gespeichert hat, und etwa 1000 eigene, die er selbst auf Turnieren geschlagen hat. "Am liebsten würde ich ohne Brett spielen", sagt er. Der Heidelberger ist achtfacher Deutscher Meister, hat je dreimal die nationale Fernschach- und die Schnellschach-Meisterschaft der Blinden gewonnen. Die Spieler nennen ihn den Bayern München des Blindenschachs. "Er hat das Eröffnungswissen, das Titelträger brauchen", sagt Klaus-Jörg Lais vom Deutschen Schachbund. Auf Turnieren der Sehenden erzielt er erstaunliche Resultate, agiert auf dem Niveau deutscher Drittligaspieler, besiegt mitunter Großmeister. Noch bis zum 29. Oktober läuft die "Blindenschacholympiade" auf Kreta. Zwei Dutzend Nationalteams und 120 Spieler treten an. Einmal errang Bischoffs Mannschaft, die sich aus den besten der rund 400 deutschen Blindenspieler zusammensetzt, bereits Bronze. Bischoff wird alles so machen wie immer. Die Wasserflasche wird links zu seinen Füßen stehen. Links vor ihm auf dem Tisch die Uhr ohne Glas, mit der er die verbleibende Spieldauer an den Zeigern ertastet. Vor ihm sein spezielles Brett, auf dem er die Figuren - alle Züge sind von den Spielern laut anzusagen - in kleinen Löchern verankert. Blinde brauchen absolute Ordnung. In seiner Heidelberger Wohnung nahe der Fußgängerzone, die er gemeinsam mit seinem beinamputierten Freund Karl-Heinz Riegler, 45, bewohnt, hat alles seit Jahren einen festen Platz. Dieter Bischoff orientiert sich an rechten Winkeln und mit einem ausgeprägten Raumgefühl. Ihm hilft sein phänomenales Gedächtnis. Gut 1000 Schachzüge und mindestens 500 Telefonnummern hat er parat. Neues birgt Gefahren. Der Kaktus, den Karl-Heinz anschleppt, landet auf dem Müll. Vielleicht führen die beiden so etwas wie die perfekte Beziehung? Man braucht einander. Seit 25 Jahren schiebt Dieter seinen Freund im Rollstuhl herum, Karl-Heinz navigiert. Jeder ist des Anderen Zugang zur Welt. Bischoffs Gedächtnis hält vor allem die Bilder seiner Kindheit präsent. Die im Kopf archivierten Motive sind jahrzehntealt. Als Sechsjähriger merkt er, dass mit seinen Augen etwas nicht stimmt. Beim Versteckspiel finden ihn die Kinder immer als Ersten, obwohl er sich gut verborgen wähnt. Die Lehrer geben ihm schlechte Noten, weil er Tafelbilder nicht erkennt. Der Junge zieht sich zurück. Der Marktplatz von Ratingen in Nordrhein-Westfalen scheint Bischoff heute wirklicher als der Heidelberger Bismarckplatz mit den für ihn lebensbedrohlichen Bussen und Bahnen. 30 Jahre hat er in Ratingen gelebt, bis er sich an der Heidelberger FH für ein Informatikstudium einschreibt, das er abschließt. Nachtblindheit diagnostizieren die Ärzte, da ist er schon 18 Jahre alt. Zugleich erkennen sie seine fortgeschrittene Rentinitis Pigmentosa, eine erbliche Augenerkrankung, die schubweise die Netzhaut von außen nach innen zerstört. Sein rechtes Auge hat die Welt abgeschaltet, sein linkes erahnt hell und dunkel. Die Psychotricks der blinden Strategen Am Tag vor dem Turnier auf Kreta wird sich Bischoff jene Sicherheit erarbeiten, die der Mann mit der erstaunlichen Leistungskennzahl von 2168 sogenannten Elopunkten für sein Spiel braucht. Er wird die kürzesten Wege einstudieren, Orientierungspunkte festlegen, vom Hotelzimmer in den Spielsalon, vom Tischplatz auf die Toilette. Viele Gegner erkennt er an deren Stimmen. "Hat jemand eine freundliche Stimme", sagt Bischoff, "male ich mir den Menschen schön. Das ist das Gute, wenn man nichts sieht." Schönmalerei hat am Brett nichts verloren. Dort herrschen Feindbilder. Schon beim Händedruck spürt Dieter Bischoff, ob ein Kontrahent nervös oder übermütig ist. Manchmal glaubt er, dessen Angst riechen oder am Klappern der Figuren dessen Hektik hören zu können. Auch Geschlecht, Alter und Nationalität, wichtige Indizien für die Strategie des Gegenübers, erschließen sich Bischoff. Dass blinde Schachspieler einander freundlicher behandeln als Sehende, ist ein Trugschluss. Um den Rivalen zu entnerven, wird mal explosiv, mal einschläfernd gespielt, man trommelt auf die Tischplatte, lässt den Kontrahenten lange warten, bevor man zur Partie Platz nimmt, oder lobt zu dessen Verblüffung das Muster seiner Krawatte. Dieter Bischoff grinst. "Dass der eine trägt, weiß man natürlich von einem Sehenden." Er selbst lässt sich allzu leicht ablenken, wenn die Leute um ihn herum flüstern. "Ich glaube dann, ich müsste da zuhören." Ausgerechnet im streng definierten Raum des Brettes erlebt Dieter Bischoff die Breite der Emotionen - Zweifel, Frust, Hoffnung. Auch Freude, manchmal bis ihm die Tränen laufen. Im Koordinatensystem von A(nna) bis H(ektor), eins bis acht, entfaltet sich Bischoffs Charakter. Er sagt, Schach habe ihn selbstbewusster gemacht, das Gefühl, ein ewiger Verlierer zu sein, aus dem Kopf vertrieben. "Ich weiß nicht", sagt er, "was ohne Schach aus mir geworden wäre."