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Info-Mail Schach Nr. 939


"Schach gab mir ein zweites Leben"
(Quelle: Schwäbische Zeitung - Tuttlingen - vom 12.03.2009)

"Turm a1 auf e1". Der Spieler, der diesen oder einen anderen Zug wählt,
sieht das reale Schachbrett nicht, hat die Konstellation darauf aber umso
besser im Kopf: Der 54-jährige Tuttlinger Rudolf Dalmann ist seit zwölf
Jahren blind und spielt trotzdem seit fast einem Jahrzehnt für den SC
Möhringen erfolgreich Schach.

Die Beschäftigung mit dem Schachsport hat Rudolf Dalmann entscheidend
geholfen, sein schweres persönliches Schicksal zu meistern. Im April 1995
aus Kasachstan nach Tuttlingen gekommen, wo seit 1990 bereits seine Eltern
und Geschwister lebten, hatte damals seine Sehstärke schon stark
nachgelassen. Mehrere Ärzte machten ihm keine Hoffnung, die drohende völlige
Blindheit abzuwenden. "Es war für mich wie ein Hammerschlag auf den
Schädel", erinnert sich Rudolf Dalmann, "und eine ganz schwere Zeit am
Anfang; ich war ja in einer fremden Stadt, alle Freunde in der Heimat, hier
hatte ich nur Geschwister und Eltern."

Geboren worden ist Rudolf Dalmann in Nordrussland, in Archangelsk. Dorthin
waren nach dem Krieg, obwohl zwischenzeitlich in Deutschland eingebürgert,
die aus der Ukraine stammenden Eltern nach ihrer Auslieferung durch die
Amerikaner an die Russen zwangsangesiedelt worden. "Es war eine schlimme
Zeit", erzählte später der als Holz- und Sägewerksarbeiter tätige, heute
81-jährige Vater.

Als die Familie anno 1990 zurück nach Deutschland durfte, blieb Dalmann
freiwillig noch fünf weitere Jahre in Kasachstan. Der damals 36-Jährige
mochte nicht in ein "fremdes Land" und hatte ja eine "gute Arbeit".

Keine Zeit fürs Spielen

Um dann nach seiner Erblindung nicht nur daheim herumzusitzen, "bin ich
langsam wieder zum Schach gekommen", sagt Dalmann, der die Sportart schon
als Zehnjähriger kennengelernt und zunächst auch betrieben hatte. Der Beruf
als Radiomechaniker beim Sender seiner Stadt ließ ihm dann nicht mehr die
Zeit dafür. Zumal der junge Mann zehn Jahre lang das Tor der örtlichen
Eishockey-Mannschaft hütete. Die Folgen der Kinderlähmung, an der er als
Fünfjähriger, kurz nach dem Umzug nach Kasachstan erkrankt war, beschränkten
sich noch auf eine relativ leichte Behinderung beim Gehen. Die vielen
Antibiotika freilich, so meinten später die Ärzte, ließen jedoch schließlich
die Netzhaut austrocknen.

Schließlich "habe ich gedacht, das Leben geht weiter", berichtet Dalmann. Er
fand, nachdem er daheim schon "die Figuren im Kopf hin und hergeschoben"
hatte, zum Schachclub Möhringen. Schon bald bot ihm der SCM an, in der
Mannschaft mitzuspielen. Das tut er seither - und will dem Verein ("alles
nette Leute, sie haben mich sehr gut aufgenommen") so lange treu bleiben,
wie dessen Team existiert. Auch vielen regulären Turnieren nimmt der
54-Jährige teil.

Im Sportbetrieb bekommt Rudolf Dalmann als Blinder keine Privilegien. Seine
Figuren bewegt der jeweilige Gegner auf dem Brett - nachdem Dalmann den Zug
angesagt hat. "Nach jedem Zug habe ich das Bild im Gehirn", sagt er - samt
der gegnerischen Stellung. Wie in einem Album speichert er die Zug-Folge -
wenn Dalmann einmal die Position einer Figur vergessen hat, "blättere ich
die Züge zurück, bis ich sie wiedergefunden habe - ich frage nie nach, wo
sie steht". Der Gedächtniskünstler kann eine komplette Partie noch lange
Zeit später nachvollziehen, eigene oder gegnerische Fehler suchen. Sogar
Simultanturniere mit zehn Brettern ("noch nicht das Ende, glaube ich")
spielt er schon mal im Kopf durch. Dass oft Neugierige seinen Tisch belagern
("ich spüre es irgendwie, wenn alle zugucken"), stört ihn längst nicht mehr:
"Ich bin jetzt daran gewöhnt."

Hunderte Nummern im Kopf

"Ich muss ja eigentlich alles im Kopf behalten", sagt Dalmann, der als
Schüler Mathematik liebte. Im Kopf hat er auch mehr Telefonnummern
gespeichert, als das manches moderne Handy vermag: "Vor zwei Jahren hab
ich's gezählt, da waren es 500, und seither sind noch viele dazu gekommen."
Gegner wundern sich manchmal, wenn der 54-Jährige nach einer Pause
zurückkommt und gleich nahtlos weiterspielt. Doch "ich habe das Brett ja
immer dabei - im Kopf".

Dalmann denkt jeweils fünf bis acht Züge voraus: "Da schiebe ich die Figuren
im Kopf hin und her, aber dann muss ich ja wieder zurück..." Die Zeit bildet
kein großes Problem. So spielt der 54-Jährige gerne auch
Schnellschachturniere mit 15 bis 20 Minuten Bedenkzeit. Auf Blitzschach
verzichtet er allerdings: "Fünf Minuten sind für mich zu wenig; es kostet ja
auch Zeit, wenn der Gegner meinen Zug ausführt."

Mittlerweile hat der kontaktfreudige Rudolf Dalmann durch seinen Sport viele
Freunde gefunden. Etliche stehen ihm auch privat zu Seite. "Der Schach hat
mir ein zweites Leben gegeben, es war wie der zweite Atem für mich", sagt er
und hat trotz der Blindheit sein Leben "jetzt gut im Griff". Zumal Dalmann
seit zwei Jahren "glücklich verheiratet" ist. Seine Frau, die aus Russland
stammende 42-jährige Galina, lernte er kennen, als sie ihre Schwester in
Tuttlingen besuchte. "Eine sehr gute Frau, sie versteht mich gut", freut
sich Rudolf Dalmann.

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