Vom Außenseiter zum Europameister: (Quelle: Zeit online) Den größten Teamerfolg seiner Geschichte verdankt der deutsche Schachbund dem usbekischen Großmeister Kasimdschanow. Der Schlachtplan für den entscheidenden Wettkampf gegen den Schachweltmeister Armenien wurde auf einem nächtlichen Spaziergang rund um die griechische Ferienanlage Porto Carras auf Sithonia entworfen. "Georg, die beste Chance, eine Partie zu gewinnen, haben wir an Deinem Brett", sagte der mit der deutschen Mannschaft angereiste Trainer Rustam Kasimdschanow leise. Georg Meier, ein 24-jähriger Trierer, derzeit Wirtschaftsstudent an der Texas Tech University in Lubbock, konnte nicht sicher sein, ob er richtig verstanden hatte. Schließlich führte er die schwarzen Steine, ging nicht mit dem Vorteil des ersten Zugs ins letzte Europameisterschafts-Spiel. Und in Sergei Movsesian erwartete ihn ein fast sechzig Weltranglistenplätze vor ihm klassierter Gegner. Doch Kasimdschanow hatte weiter gedacht: "Mit Weiß wird sich der Armenier gezwungen fühlen, auf Gewinn zu spielen. Aber gegen Georg in dieser Form zu gewinnen, ist sehr schwierig", sagt Kasimdschanow. Meier sollte die Französische Eröffnung spielen. Wenn Movsesian dann auf die Vorstoßvariante verzichtete, sollte Meier jedoch nicht seine übliche Rubinstein-Variante spielen, mit der er fast immer ein Remis bekommt, aber selten gewinnt, sondern in die schärfere Hauptvariante einlenken. "Ich kann nicht sagen kann, ob das Georgs oder meine Idee war, wir haben so viel diskutiert und zusammen analysiert", so Kasimdschanow. Die Marschroute des 31-Jährigen, der in der Bundesliga neuerdings zusammen mit Meier, Arkadi Naiditsch und Jan Gustafsson für Meister OSG Baden-Baden spielt, wurde am folgenden Tag umgesetzt: Am ersten Brett unternahm der Dortmunder Naiditsch mit Weiß keinerlei Gewinnversuche gegen Armeniens Spitzenspieler Lewon Aronjan. Nach nicht einmal zehn Minuten war ein Unentschieden vereinbart. Wenig später gab der Bochumer Daniel Fridman die einzige weitere Weißpartie remis. An den beiden verbliebenen Brettern hatte das deutsche Team Schwarz. Das bedeutet in der Regel zunächst Defensive, doch schon in den vorangehenden Runden wurden die entscheidenden Punkte mit den schwarzen Figuren erzielt: Beim 2,5:1,5 gegen Rumänien ließ sich Fridman einen Springer wegnehmen, um das ausschlaggebende Tempo für einen Konter zu gewinnen. Gegen Aserbaidschan provozierte Naiditsch den Weltranglistenfünften Teimur Radschabow zu einem zum Scheitern verurteilten Angriff. Meiers Variantenwechsel brachte Movsesian wie beabsichtigt aus dem Konzept. Mit Aufmerksamkeit und taktischen Schlägen an beiden Flügeln gewann er eine mustergültig geführte Partie. Als Meiers Mannschaftskollege Gustafsson alle Gewinnversuche Sargissjans abgewehrt hatte, war ein 2,5:1,5 perfekt. Deutschland war Europameister vor Aserbaidschan und Ungarn. Armenien blieb nur der vierte Platz. Dauerfavorit Russland, das bis vor zehn Jahren fast alle Titel einstrich, steckte mit Platz fünf eine weitere Enttäuschung ein. Noch schlimmer erwischte es den Sieger der letzten Schacholympiade: Die Ukraine wurde Fünfzehnter. Für den Deutschen Schachbund ist es nur ein Jahr nach seiner vielleicht schwersten Blamage, dem 64. Platz bei der Schacholympiade, der größte Mannschaftserfolg in seiner 134-jährigen Geschichte. Alle fünf deutschen Großmeister, auch der gegen Armenien pausierende Rainer Buhmann aus Hockenheim, punkteten bei der EM besser, als ihre Elozahlen erwarten ließen. Außer bei der einzigen Niederlage gegen Bulgarien ging keine Partie verloren. "Es wurde unglaublich professionell für den Erfolg gearbeitet", sagt Buhmann. Ohne Konkurrenzdenken und Geheimnistuerei seien sogar persönliche Analysen zwischen den Profis ausgetauscht worden. Der im vorigen Jahr eskalierte Honorarstreit mit dem Schachbund dürfte ihren Zusammenhalt gestärkt haben. Voll des Lobs ist Buhmann auch für Kasimdschanows Tipps in der Vorbereitung, die allen zusätzliches Selbstbewusstsein verschafft haben. "Starke Schachspieler sind von Natur aus misstrauisch", sagt Kasimdschanow. "Bei vielen Teams wäre meine Hilfe nicht angekommen. Die Russen hätten von mir nichts angenommen. Aber die deutschen Spieler haben sehr schnell verstanden, dass ich da war, um ihnen zu helfen." Kasimdschanow, der mit seiner Familie in Ruppichteroth im Bergischen Land wohnt, spricht fast perfekt Deutsch. Dass Weltmeister Anand auf seine Analysen setzt, die etwa 2008 in Bonn zwei vorentscheidende Schwarzsiege im WM-Kampf gegen Kramnik brachten, ist bekannt. Wie der Fide-Weltmeister des Jahres 2004 schachlich arbeitet, wusste im deutschen Team allerdings nur sein gelegentlicher Trainingspartner Fridman, der ihn im September beim Deutschen Schachbund ins Gespräch brachte. Die Verpflichtung eines Theorietrainers forderten Naiditsch, Meier, Fridman und Gustafsson neben höheren Honoraren bereits 2010. Damals fehlte es dem Schachbund nicht nur an Mitteln sondern auch an Verständnis für die frustrierten Profis. Die damalige Verbandsspitze war drauf und dran, Naiditsch und Meier dauerhaft zu verbannen. Neue Sponsoren haben dann nur die finanzielle Seite des Konflikts gekittet. Tage vor der EM stand Naiditsch aufgrund einer zynischen Bemerkung über den eigentlichen Bundestrainer Uwe Bönsch nochmals vor dem Rausschmiss. Nur ein Machtwort des seit Mai amtierenden Präsidenten Herbert Bastian beschwichtigte die Gemüter. Ob sich der Geist von Porto Carras in die Zukunft retten lässt, ist mehr als fraglich. Als Trainer für die Schacholympiade 2012 in Istanbul steht Kasimdschanow nicht zur Verfügung: "Ich werde für mein Heimatland Usbekistan spielen. Das ist keine Frage des Geldes."