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Info-Mail Schach Nr. 1373


 Schachmatt
(Quelle: Ulrich Marx - offenburger Tageblatt vom 14.11.2013)

Schach spielen und nichts dabei sehen? Dass das mit Fingerspitzengefühl und 
einem guten Gedächtnis funktioniert, haben die Teilnehmer bei der 
Meisterschaft des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenschachbunds bewiesen. 
Insgesamt 19 blinde und fast blinde Spieler waren bei dem Turnier in 
Mühlenbach dabei.

Nebel liegt über den Wiesen rund um das Mühlenbacher Hotel »Roter Bühl½. Es 
regnet. Kalt und nass ist es draußen, warm und gemütlich ist es drinnen. 
Teppichboden, es riecht nach Kaffee. An einem Tisch nahe der Rezeption 
sitzen Gert Schulz und Peter Ellinger.

Ihre Schachpartie ist für heute vorbei. Auf der Jacke von Peter Ellinger 
leuchtet ein kleiner, gelber Kreis mit drei schwarzen Punkten - das 
Blindenzeichen. Peter Ellinger sieht fast nichts mehr, genau wie die anderen 
Schachspieler, die aus ganz Deutschland nach Mühlenbach gereist sind. Dort, 
oben im Wald, umgeben von Wiesen, treten die 19 Schachspieler bei der 
Meisterschaft des Deutschen Blinden- und Sehbehinderten-Schachbunds 
gegeneinander an.

Manche von ihnen sind vollkommen erblindet, während andere noch wenige 
Prozent Sehkraft besitzen. Gert Schulz erkrankte an einer 
Netzhautdegeneration, heute sieht er nur noch ein Prozent. Kaum zu glauben, 
denn der 49-Jährige schaut seinen Gegenüber durch seine getönten 
Brillengläser mit einem zielgerichteten Blick an: »Ich sehe das Schachbrett 
vor meinem geistigen Auge½, sagt er. Blind Schach spielen sei ein bisschen 
wie Auto fahren, je mehr Routine man habe, desto einfacher sei es, findet 
Schulz.

Es gibt Muster - Figurenkonstellationen, die ihm helfen, sich zu merken, wo 
die Schachfiguren positioniert sind. Und dann gibt es noch eine Hilfe. Als 
Gedächtnisstütze, und damit die Partie auch später noch nachvollziehbar ist, 
dokumentieren die Spieler die Züge. »Ich zeige es Ihnen½, sagt Schulz, steht 
auf und läuft zur Treppe, die nach oben führt. Sicher nimmt er eine Stufe 
nach der anderen, biegt am Treppenabsatz rechts ab, läuft einen schwach 
beleuchteten Gang entlang und direkt auf die Tür am Ende des Flurs 
zu. »Aufenthaltsraum½ steht darauf.

Schulz greift nach der Klinke, drückt sie vorsichtig herunter und betritt 
leise den Raum. Fliesenboden, eine Fensterfront gibt den Blick auf eine 
grüne Wiese mit einem Gartenhäuschen frei. Holztische stehen im Raum 
verteilt. An ihnen sitzen die Schachspieler. Jeder von ihnen hat sein 
eigenes Schachbrett vor sich stehen. Sie sind nicht einheitlich, sondern mal 
größer, mal kleiner.

Ein Flüstern ist zu hören: »Dame schlägt Eva 5½, sagt Rainer Hahn leise. 
Sein Gegner, Günter Thieme, wiederholt »Dame schlägt Eva 5½. Das ist 
wichtig, um Missverständnisse zu vermeiden. Hahn hält sein Tonbandgerät in 
der Hand und spricht die Position seiner Dame ein. Er drückt die Starttaste 
und hört sich die vorangegangenen Züge noch einmal an. Dann stecken Hahn und 
Thieme auf jeweils ihrem Schachbrett die Figuren um. »Bei uns gibt es nicht 
die >Berührt-Geführt-<, sondern die >Gezogen-Geführt-Regel<½, erklärt 
Schulz, während er die Partie zwischen Hahn und Thieme anhört. Die 
Spielbretter haben Löcher auf den Feldern, in denen die Figuren dank eines 
Metallstiftes halten, damit sie beim Ertasten nicht umfallen.

Um den Unterschied zwischen den schwarzen und weißen Figuren deutlich zu 
machen, sind die schwarzen Felder leicht erhöht. Die Metallstifte der 
schwarzen Könige, Damen, Türme, Springer, Läufer und Bauern ragen außerdem 
wenige Millimeter über die Figuren hinaus. Rainer Hahn drückt den Schalter 
der Uhr, die in der Mitte des Tisches steht und die verbleibenden Minuten 
für jeden Spieler anzeigt. Die digitale Anzeige, die rückwärts zählt, 
stoppt. Hahn hat seinen Zug beendet. Nun beginnen die Sekunden bei seinem 
Gegner rückwärts zu laufen.

»Am Anfang einer Partie zeigt die Uhr bei jedem Spieler 180 Minuten an. 
Diese Zeit hat jeder Teilnehmer für seine ersten 40 Züge½, erklärt Schulz. 
Durch einen Knopfdruck sagt die Uhr den Schachspielern über einen Kopfhörer, 
wieviel Minuten ihnen noch bleiben. Die Stille im Raum wird nicht nur durch 
die leisen Ansagen der Züge unterbrochen, hin und wieder raschelt auch 
Papier. Einige der Spieler schreiben sich die Züge auf. Ihre Nasenspitzen 
berühren dabei das Blatt. Andere Spieler halten ihr Schachbrett mit beiden 
Händen die ganze Zeit vors Gesicht. »Wir haben alle unsere eigene Methode 
Schach zu spielen. Das hängt zum einen damit zusammen, ob ein Spieler noch 
sieht. Zum anderen ist es auch davon abhängig, wie die Situation war, als 
man Schach gelernt hat½, erklärt Schulz.

Anton Lindenmair aus Augsburg ist vollkommen blind, eine Hand hat er immer 
auf seinem Schachbrett und tastet damit die Figuren ab. Langsam bewegen sich 
seine Finger von Feld zu Feld. Er lässt nur von dem Brett ab, wenn er seine 
Züge mit der Blindenschreibmaschine, die rechts neben ihm steht, abtippt. 
Lindenmair hat noch 23 Minuten und 27 Sekunden, um die Partie für sich zu 
entscheiden. »Schachmatt½ heißt es dagegen am Nebentisch. Jürgen Pohlers aus 
Leipzig hat Hans Jagdhuber aus Augsburg geschlagen. Schiedsrichter 
Fritz-Günter Obert gibt das Ergebnis auf seinem Laptop in eine Tabelle ein. 
Seit 30 Jahren ist der Mann mit dem Vollbart Schiedsrichter bei 
Schachturnieren, seit fünf Jahren ist er auch bei Wettbewerben im 
Blindenschach dabei.

Inzwischen ist es Abend. Die Partien der stärksten Spieler haben sich bis 
jetzt hingezogen. Oliver Müller aus Bremen ist einer von ihnen. »Er gilt als 
Favorit½, flüstert Schulz. Der gelernte Bankkaufmann wird Recht behalten: 
Oliver Müller wird am Ende des Turniers Deutscher Meister sein.

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