Schachmatt (Quelle: Ulrich Marx - offenburger Tageblatt vom 14.11.2013) Schach spielen und nichts dabei sehen? Dass das mit Fingerspitzengefühl und einem guten Gedächtnis funktioniert, haben die Teilnehmer bei der Meisterschaft des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenschachbunds bewiesen. Insgesamt 19 blinde und fast blinde Spieler waren bei dem Turnier in Mühlenbach dabei. Nebel liegt über den Wiesen rund um das Mühlenbacher Hotel »Roter Bühl½. Es regnet. Kalt und nass ist es draußen, warm und gemütlich ist es drinnen. Teppichboden, es riecht nach Kaffee. An einem Tisch nahe der Rezeption sitzen Gert Schulz und Peter Ellinger. Ihre Schachpartie ist für heute vorbei. Auf der Jacke von Peter Ellinger leuchtet ein kleiner, gelber Kreis mit drei schwarzen Punkten - das Blindenzeichen. Peter Ellinger sieht fast nichts mehr, genau wie die anderen Schachspieler, die aus ganz Deutschland nach Mühlenbach gereist sind. Dort, oben im Wald, umgeben von Wiesen, treten die 19 Schachspieler bei der Meisterschaft des Deutschen Blinden- und Sehbehinderten-Schachbunds gegeneinander an. Manche von ihnen sind vollkommen erblindet, während andere noch wenige Prozent Sehkraft besitzen. Gert Schulz erkrankte an einer Netzhautdegeneration, heute sieht er nur noch ein Prozent. Kaum zu glauben, denn der 49-Jährige schaut seinen Gegenüber durch seine getönten Brillengläser mit einem zielgerichteten Blick an: »Ich sehe das Schachbrett vor meinem geistigen Auge½, sagt er. Blind Schach spielen sei ein bisschen wie Auto fahren, je mehr Routine man habe, desto einfacher sei es, findet Schulz. Es gibt Muster - Figurenkonstellationen, die ihm helfen, sich zu merken, wo die Schachfiguren positioniert sind. Und dann gibt es noch eine Hilfe. Als Gedächtnisstütze, und damit die Partie auch später noch nachvollziehbar ist, dokumentieren die Spieler die Züge. »Ich zeige es Ihnen½, sagt Schulz, steht auf und läuft zur Treppe, die nach oben führt. Sicher nimmt er eine Stufe nach der anderen, biegt am Treppenabsatz rechts ab, läuft einen schwach beleuchteten Gang entlang und direkt auf die Tür am Ende des Flurs zu. »Aufenthaltsraum½ steht darauf. Schulz greift nach der Klinke, drückt sie vorsichtig herunter und betritt leise den Raum. Fliesenboden, eine Fensterfront gibt den Blick auf eine grüne Wiese mit einem Gartenhäuschen frei. Holztische stehen im Raum verteilt. An ihnen sitzen die Schachspieler. Jeder von ihnen hat sein eigenes Schachbrett vor sich stehen. Sie sind nicht einheitlich, sondern mal größer, mal kleiner. Ein Flüstern ist zu hören: »Dame schlägt Eva 5½, sagt Rainer Hahn leise. Sein Gegner, Günter Thieme, wiederholt »Dame schlägt Eva 5½. Das ist wichtig, um Missverständnisse zu vermeiden. Hahn hält sein Tonbandgerät in der Hand und spricht die Position seiner Dame ein. Er drückt die Starttaste und hört sich die vorangegangenen Züge noch einmal an. Dann stecken Hahn und Thieme auf jeweils ihrem Schachbrett die Figuren um. »Bei uns gibt es nicht die >Berührt-Geführt-<, sondern die >Gezogen-Geführt-Regel<½, erklärt Schulz, während er die Partie zwischen Hahn und Thieme anhört. Die Spielbretter haben Löcher auf den Feldern, in denen die Figuren dank eines Metallstiftes halten, damit sie beim Ertasten nicht umfallen. Um den Unterschied zwischen den schwarzen und weißen Figuren deutlich zu machen, sind die schwarzen Felder leicht erhöht. Die Metallstifte der schwarzen Könige, Damen, Türme, Springer, Läufer und Bauern ragen außerdem wenige Millimeter über die Figuren hinaus. Rainer Hahn drückt den Schalter der Uhr, die in der Mitte des Tisches steht und die verbleibenden Minuten für jeden Spieler anzeigt. Die digitale Anzeige, die rückwärts zählt, stoppt. Hahn hat seinen Zug beendet. Nun beginnen die Sekunden bei seinem Gegner rückwärts zu laufen. »Am Anfang einer Partie zeigt die Uhr bei jedem Spieler 180 Minuten an. Diese Zeit hat jeder Teilnehmer für seine ersten 40 Züge½, erklärt Schulz. Durch einen Knopfdruck sagt die Uhr den Schachspielern über einen Kopfhörer, wieviel Minuten ihnen noch bleiben. Die Stille im Raum wird nicht nur durch die leisen Ansagen der Züge unterbrochen, hin und wieder raschelt auch Papier. Einige der Spieler schreiben sich die Züge auf. Ihre Nasenspitzen berühren dabei das Blatt. Andere Spieler halten ihr Schachbrett mit beiden Händen die ganze Zeit vors Gesicht. »Wir haben alle unsere eigene Methode Schach zu spielen. Das hängt zum einen damit zusammen, ob ein Spieler noch sieht. Zum anderen ist es auch davon abhängig, wie die Situation war, als man Schach gelernt hat½, erklärt Schulz. Anton Lindenmair aus Augsburg ist vollkommen blind, eine Hand hat er immer auf seinem Schachbrett und tastet damit die Figuren ab. Langsam bewegen sich seine Finger von Feld zu Feld. Er lässt nur von dem Brett ab, wenn er seine Züge mit der Blindenschreibmaschine, die rechts neben ihm steht, abtippt. Lindenmair hat noch 23 Minuten und 27 Sekunden, um die Partie für sich zu entscheiden. »Schachmatt½ heißt es dagegen am Nebentisch. Jürgen Pohlers aus Leipzig hat Hans Jagdhuber aus Augsburg geschlagen. Schiedsrichter Fritz-Günter Obert gibt das Ergebnis auf seinem Laptop in eine Tabelle ein. Seit 30 Jahren ist der Mann mit dem Vollbart Schiedsrichter bei Schachturnieren, seit fünf Jahren ist er auch bei Wettbewerben im Blindenschach dabei. Inzwischen ist es Abend. Die Partien der stärksten Spieler haben sich bis jetzt hingezogen. Oliver Müller aus Bremen ist einer von ihnen. »Er gilt als Favorit½, flüstert Schulz. Der gelernte Bankkaufmann wird Recht behalten: Oliver Müller wird am Ende des Turniers Deutscher Meister sein.