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Info-Mail Schach Nr. 1782


Mann erblindet nach Lungentransplantation
(Quelle: Ostseezeitung vom 07.01.2019, Jana Franke)

"Die Augen sind ein fairer Preis für meine Lunge"

Grevesmühlen

Ein Leben im Dunkeln: - "Die Augen sind ein fairer Preis für meine Lunge"

Nach einer Lungentransplantation im Jahr 2015 erblindet Marcus Hausmann. Er sortiert sein Leben neu und spielt erfolgreich Schach beim Sportverein Blau-Weiß Grevesmühlen (Nordwestmecklenburg).

Partie im Dunkeln: Trotz seiner Erblindung ist Marcus Hausmann vom SV Blau-Weiß Grevesmühlen begeisterter Schachspieler. Quelle: FOTO: JANA FRANKE Boltenhagen/Grevesmühlen

"Die Augen sind ein fairer Preis für meine neue Lunge." Marcus Hausmann sitzt im Erker seiner Wohnung am Küchentisch und unterstreicht seinen Satz mit einem Nicken. Vor ihm steht das Schachbrett, die Figuren sind darauf erhaben positioniert. So erhaben steht der 52-Jährige auch seinem Schicksal gegenüber. Vor dreieinhalb Jahren verlor der ehemalige Schulsekretär sein Augenlicht. Aufgeben? Für ihn keine Option.

Ein Leben mit Mukoviszidose

Es ist Mitte Juli 2015, der Geburtstag seiner Zwillingstöchter, als Marcus Hausmann sie das letzte Mal sieht. Das Abiturzeugnis einige Wochen später hat er nie begutachten können. "Ich muss ihnen glauben, dass sie bestanden haben", scherzt er. Seiner Erblindung vorausgegangen ist ein eingeschränktes Leben mit einer kaputten Lunge. Als Kind hat er oft Fieber und Lungenentzündungen. An Mukoviszidose, eine angeborene und unheilbare Stoffwechselerkrankung, will niemand in der Familie glauben. Auch der Arzt nicht. Mit einem Test soll die Krankheit ausgeschlossen werden. Kann sie aber nicht. "Ich hatte dann noch eine Lebenserwartung von zwei Jahren", erinnert er sich. Damals in Bayern aufgewachsen, habe es kaum Therapien und Medikamente gegeben. Auch bei seinem ein Jahr jüngeren Bruder wird Mukoviszidose diagnostiziert. Während dieser im Darmbereich Probleme hat, lässt bei Marcus Hausmann die Leistungsfähigkeit der Lunge nach.

Er wird älter als acht Jahre, sogar älter als 28 Jahre - das Durchschnittsalter, das Ärzte Mukoviszidose-Patienten voraussagen. Auch sein Bruder lebt noch. Im Jahr 2012, er lebte mit seiner Frau und den Kindern auf Amrum, beschäftigt sich Marcus Hausmann mit dem Gedanken einer Lungentransplantation, 2014 lässt er sich listen und ein Jahr später trägt sein Oberkörper eine Narbe von der Operation. Die Transplantation ist am 12. März 2015. An einer Schnittstelle bildet sich ein Abszess. "Es sei nicht beunruhigend, sagte man mir", erinnert er sich. Er darf nach Hause und erholt sich zusehends. Anfang Juni bekommt Marcus Hausmann Fieber. Er befürchtet, dass sein Körper die Lunge abstößt. Im Krankenhaus kommen Schmerzen im Unterschenkel dazu, dann schwellen die Lymphknoten am Hals an und das Auge schmerzt. Erst das linke, dann das rechte. Die Ärzte glauben an eine Bindehautentzündung. Als er immer schlechter sehen kann, zeigt ein Abstrich: Die Entzündung ist hinter dem Auge. Beide sind betroffen. Vier Wochen später die Totaloperation der Augen, damit die Entzündung nicht ins Gehirn wandert. Er bekommt Glasaugen.

Von heute auf morgen ein Leben im Dunkeln

Plötzlich müssen Marcus Hausmann und seine Familie ihr Leben komplett neu ordnen. "Von heute auf morgen war alles anders. Soll alles umsonst gewesen sein", schildert er seine Gedanken nach der OP. Hinzu kommen Nebenerscheinungen zur Erblindung: Schlafstörungen. Kopfschmerzen, zweieinhalb Monate durchgängig. Aufgeben? Für ihn keine Option. Nach 21 Wochen im Krankenhaus ertastet er seine Umgebung im eigenen Heim auf Amrum, beginnt mit dem Stocktraining. Sein Lebensmut ist ungebrochen. "Ich wollte in einer Woche allein zum Bäcker", sagt er. Daraus wird ein halbes Jahr. "Ich habe anfangs nicht einmal bis zu unserem Garten gefunden." Marcus Hausmann lernt die Blindenschrift, die Punkt- und die Kurzschrift. Die Kurse belegt er in Boltenhagen im Haus "Waldfrieden". Auch mit Windows 7 beschäftigt er sich. Schon als Zwölfjähriger spielt er Schach, später kommt Poker hinzu. Das alles will er trotz Erblindung nicht aufgeben. Er besorgt sich ein Pokerblatt für Blinde mit Punktschrift. In drei Wochen hat er es drauf, denkt er zumindest. Im ersten Spiel hat er eine Fehlerquote von 80 Prozent, im zehnten Spiel von nur noch 30 Prozent, heute geht alles gegen Null.

Mit einem speziellen Brett und speziellen Figuren muss er auch sein liebstes Hobby, das Schachspielen, nicht aufgeben. Ende 2016 spielt er das erste Mal online, ein Jahr später gewinnt er in Timmendorfer Strand sein erstes Turnier nach der schweren Zeit.

Ein radikaler Schnitt: Er verlässt Amrum

Gesundheitlich geht es Marcus Hausmann immer besser, im Inneren allerdings tobt ein Sturm. Auf Amrum fühlt er sich nicht mehr wohl. Im Frühjahr 2018 macht er einen radikalen Schritt, trennt sich nach 26 Ehejahren von seiner Frau. Mit einem Koffer und zwei großen Plastiktüten verlässt er die Nordseeinsel. "Ich bin meiner Frau dankbar, dass sie die harten Zeiten mit mir durchgestanden hat. Aber es ging nicht mehr", sagt er. Nicht überall erntet er Verständnis, eine seiner Zwillingstöchter wendet sich zunächst ab, auch Freunde. Der Kontakt mit seiner Frau ist auf ein Minimales zurückgefahren. Dennoch sagt er: "2018 war das beste Jahr meines Lebens."

Im Juni findet er eine Wohnung in Boltenhagen - im Haus "Waldfrieden", das er bereits kennt. Eingezogen ist er mit zwei Matratzen, einem Kühl- und einem Apothekerschrank. 35 Tabletten am Tag muss er nehmen, außerdem spritzt er sich als Diabetiker. Der lebensfrohe Mann meistert alles allein: Einkäufe, Haushalt, macht sauber, wäscht seine Kleidung. Die Oberteile sind grau, schwarz und weiß, passen also immer zu den blauen oder schwarzen Jeans. "Ordnung ist sehr wichtig", sagt er. Alles muss zurück an seinen Platz. Die Tasse, das Messer, das Waschmittel, das Ladekabel fürs Handy, der Rucksack, die Jacke, Schuhe. . . Damit er alles wiederfindet. Seine gesamte Wahrnehmung hat sich mit der Erblindung geändert. Er spürt mit den Händen Staub auf dem Fensterbrett oder Kalk im Waschbecken. "Das mache ich dann sofort sauber."

Mit einer App scannt er Briefe, die ihm dann vorgelesen werden. Bankgeschäfte erledigt sein Berater, dem er die abfotografierten Rechnungen schickt. Durch eine Diktierfunktion am Handy schreibt er Nachrichten, mit einer speziellen Funktion werden eingehende vorgelesen. Er spielt sogar auf dem Handy - ein Quizduell für Blinde. "Und telefonieren kann mit dem Handy auch", bemerkt Marcus Hausmann lachend.

Seit einem halben Jahr spielt er beim Sportverein Blau-Weiß Grevesmühlen Schach. Jeden zweiten Mittwoch fährt er zum Training - mit dem Bus von Boltenhagen nach Grevesmühlen und am späten Abend mit dem Taxi zurück. "Die Schachfreunde sind sehr rücksichtsvoll, ich fühle mich dort sehr wohl", schätzt er ein. Mit seinen Gegnern spielt er nicht an einem Brett, sondern jeder an seinem. "Er sagt dann seinen Zug an und ich setze diesen an meinem Brett nach", beschreibt Hausmann. Dann erfühlt er, welche Figur er setzen kann. Mitschriften werden an einem sogenannten Stichelbrett gemacht.

Alle drei Monate muss Marcus Hausmann nach Hamburg zur Nachkontrolle. Mit seiner neuen Lunge gehe es ihm bestens. Die Leistungsfähigkeit liege mittlerweile bei 90 Prozent. Dass er Glasaugen trägt, ist auf den ersten und auch zweiten Blick nicht zu erkennen. "Ich bin froh und dankbar, dass ich viele Dinge sehen durfte. Ich habe eine Vorstellungskraft, was ein Messer ist, wie ein Gesicht und auch die Ostsee vor meiner Haustür aussieht. Das haben Geburtsblinde nicht." Auch eine neue Liebe hat er gefunden. Sie ist sehbehindert, lebt in Berlin und besucht ihn regelmäßig. Außerdem engagiert sich Marcus Hausmann beim Deutschen Blinden- und Sehbehinderten-Schachbund, hat sich sogar ins Präsidium wählen lassen. "Das Durchschnittsalter liegt leider bei 65 Jahren. Daran will ich arbeiten", erklärt er seine Motivation, auch junge Sehbehinderte und Blinde zu begeistern. Sogar vom Bundestrainer ist er schon zum Kadertraining eingeladen worden, schafft es in den B-Kader. Sein Ziel: A-Kader. Aufgeben? Für ihn keine Option.

Blinden- und Sehbehinderten-Schachbund

Der Deutsche Blinden- und Sehbehinderten-Schachbund (DBSB) ist in vier Spielbezirke unterteilt: Nordost mit Mecklenburg-Vorpommern, West, Süd und Südwest. Die stärksten Spieler nehmen an Welt- und Europameisterschaften, an Länderkämpfen und regionalen Schachturnieren sowie an den Deutschen Einzelmeisterschaften und Pokalturnieren des teil.

Spendenkonto:

Commerzbank Frankfurt/Main

IBAN: DE84 5008 0000 0090 7492 00

BIC: DRESDEFFXXX

Kontakt zu Marcus Hausmann: schachlehrer@gmx.de

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